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Schon von ferne merkt es der Wanderer an den Rauchwolken, die aus den zahlreichen Essen emporsteigen, daß er sich einem Industrieort nähert, der wie jede Industriestadt unserer Mark - ich erinnere nur an Landsberg, Forst, Guben, Luckenwalde, Senftenberg - etwas Besonderes, Eigenartiges, das über die Grenzen unserer Stadt hinaus bekannt ist, nicht aufweist. Neudamm hat kein stolzes Schloß wie die Nachbarorte Küstrin, Tamsel, Bärfelde und Warnitz. Neudamm besitzt auch nicht, wie zahlreiche Städte unseres Vaterlandes, eine mit Türmen und Zinnen geschmückte Burg, die, von romantischem Zauber umweht, den Mittelpunkt alter wunderbarer Sagen bildet. Auch schmiegt sich nicht die Stadt wie Frankfurt, Küstrin, Landsberg in breiter Taleswiege einem stolzen Strom vertraulich an die Brust. Hehre Bauten, wie Rathaus und Marienkirche im nahen Königsberg, erheben sich nicht aus der Straßen langer Zeile "zum lichten Reich der Schönheitsideale". Neudamm ist endlich nicht begrenzt vom Duft der Höhenzüge, wie Reitwein, Buckow, Döllensradung oder Massin. In sandiger Ebene zwischen Mietzel- und Darretal liegt unser Städtchen. Was die Gegenwart versagt, soll die Vergangenheit bieten. So liebt der Neudammer die bekannte Meriansche Topographie im Rathaus aus der Zeit nach dem 30jährigen Kriege, der unseren Ort nicht als offene Stadt, sondern wie Königsberg und Soldin von einer festen Mauer umgeben zeigt. Keine Chronik, "kein Lied, kein Heldenbuch" berichtet freilich von einer solchen Umgürtung. Aber unsere Alten und Jungen, Eingesessenen und Zugereisten berührt das nicht. Sie sehen "Altneudamm" von einer Steinmauer umgeben, die rings um die innere Stadt lag und mit Zinnen und Toren versehen war. Es ist ja auch so poesievoll, von mächtigen Torflügeln und Tortürmen, von Fallbrücken und Torwächtern zu träumen; von Feinden, die durch tapfere Verteidiger in die Flucht geschlagen wurden. Reste von einer alten Stadtmauer sind leider nirgends zu finden. Im gewissen Sinne war jedoch Neudamm eine feste Stadt, die einen Wall und außerhalb desselben eine Graben besaß, der von nahen See reichlich mit Wasser gespeist wurde. Die Namen "Wallstraße", "Karl vom Wall" usw. erinnern noch heutigentags an jene Zeit. Aber auch das ganze Stadtinnere. Die Ausdehnung Neudamms wurde nämlich durch Wall und Graben auf einen bestimmten engen Kreis beschränkt. Die Markgrafen-, Küstriner- und Färberstraße geben noch heute ein deutliches Bild davon, wie man in früheren Zeiten mit dem Raume geizen mußte: zum Teil enge Straßen, verbaute winkelige Höfe, in die Luft und Licht nur spärlichen Zugang finden; schmale Treppen und kleine niedrige Wohnräume charakterisieren den eigentlichen Stadtkern, wie wohl die besseren baulichen Grundsätze der Neuzeit auch hier schon sichtlich Abhilfe geschaffen haben. So ist die Richtstraße durch die Häuserreihe der Firma Neumann merklich gehoben worden. Auch der Markt beginnt sich zu putzen, zu strecken und zu dehnen. Freundliche Grünanlagen rings um das Rathaus, am Buttermarkt, vor der Oberpfarre und beim Kriegerdenkmal, im vergangenen Jahr geschaffen, beleben ihn. Sie hindern nicht den Verkehr und sind ein Zeugnis dafür, daß mit verhältnismäßig geringen Mitteln ein Stadtbild wesentlich verbessert werden kann. Auch die im Jahre 1925 vorgenommene Aufstockung des Klietmannschen Hotels verdient lobende Erwähnung, da die schwierige Eingliederung des nunmehr zweistöckigen Hauses in die architektonische Geschlossenheit des Marktplatzes überaus gelungen ist. Das Rathaus ist vor einigen Jahren bedeutend erweitert, erneuert und in glücklicher Anlehnung an die Zeichnung auf dem vorhin genannten Kupferstich mit einem schmucken Türmchen versehen worden. Kirche und Pfarrhaus sind neueren Datums. Zum Marktbild mit seinem Ziegelputzbau passt indessen der Ziegelrohbau wenig. Er harmoniert nicht wie das Rathaus mit den Privathäusern, wenngleich der im romanischen Baustil, nach dem Vorbild der von Stüler im alten Berliner Westen errichteten Matthäuskirche aufgeführte Bau mit seinem 43m hohen Turm, der als Wahrzeichen Neudamms gilt, für sich allein betrachtet, keineswegs unschön wirkt. Dort, wo sich der Markt nach Südwesten hin verjüngt, liegt das Flüggesche Wohnhaus. Es ist mit seinen rund 350 Jahren das älteste Gebäude unserer Stadt und war früher vermutlich das Verwaltungsgebäude der Markgräfin Katharina, der Begründerin Neudamms ("Mutter Käthe" vom Volke genannt). Das Haus wurde nach den Plänen des Provinzialkonservators auf Anregung des Magistrats restauriert. Das Äußere in seiner jetzigen Gestalt blieb erhalten; jedoch wurde das Stilwerk, so weit es schlecht war, erneuert. Die Einwohnerschaft begrüßt eine derartige Erneuerung dieses historisch wertvollen Profanbaues mit besonderer Freude. Ist sie doch ein Zeichen dafür, daß Heimatsinn und Heimatliebe auch durch die Stadtverwaltung gepflegt und gefördert werden. Wall und Graben unserer Stadt wurden im vorigen Jahrhundert eingeebnet. Der erste Schritt zur Verschönerung unseres Ortes wurde durch Anlegung von Promenaden auf dem Boden der abgetragenen Wälle und zugeschütteten Gräben getan. Unter der Führung unseres Ehrenbürgers Geh. Rat Neumann hat der Verschönerungsverein reizende Anlagen geschaffen, die von den Einheimischen zwar weniger besucht, von den Fremden aber um so mehr gerühmt werden. Zahlreiche Kastanienbäume, prächtige Eichen, Eschen, Ulmen und Linden bedecken das eingeebnete Gelände. Neben diesen Laubbäumen, die nicht nur wie die Kastanien im Frühling durch ihre Kandelaber von Blüten, sondern auch im Herbste durch ihren in allen Farbenschattierungen prangenden Blätterschmuck ein entzückendes Bild darbieten, gibt es eine Menge Ziersträucher von einer Mannigfaltigkeit der Arten, wie man sie in Parkanlagen selten findet. Im Verein mit den angrenzenden, zum Teil recht großen und schön gepflegten Gärten, bilden diese Anlagen einen Kranz, der sich um den Stadtkern legt und das Bild der sonst so nüchternen "Schornsteinstadt" wesentlich hebt. Zu jenem Stadtkern rechne ich auch die Königsberger Straße, Seestraße, Neustadt und die Ostseite des Marktes vom Hause Derz bis zur Apotheke, also jenen Stadtteil, der sich nach der im Jahre 1630 erfolgten Verlegung des Amts "Neudamm" nach Wittstock gebildet hat. Durchaus verschieden von diesem Stadtkern ist der Teil, der die Friedenstraße, Wilhelmstraße, Friedrichstraße und den Ostteil der Soldiner- Straße umfasst, und den ich im Gegensatz zu "Alt Neudamm" "Neu Neudamm" nennen möchte. Die Straßen sind hier breiter, die Häuser zum guten Teil moderner. Während die Friedrichstraße einen großen Zug dreistöckiger Arbeiterhäuser, die im Innern recht nett und praktisch, nach außen aber zu einförmig erscheinen, aufweist, zeigt die Soldiner-Straße in ihrem östlichen Teil, beginnend bei dem Wendtschen Hause, ein wesentlich anderes Bild. Hier stehen schmucke, mit Erker und Balkon versehene Wohnhäuser, die, namentlich im Frühling und Sommer, wenn die Blumen der Vorgärten und die Geranien und Petunien der Balkone in Blüte stehen, äußerst freundlich wirken. In diesem neueren Neudamm, das zum großen Teil kaum 25 Jahre alt ist, steht das interessanteste Gebäude unserer Stadt, die rund 300 Jahre alte frühere Papiermühle. Mit ihrem Dach macht sie einen überaus ehrwürdigen Eindruck. Schon längst ist sie in eine modern eingerichtete Tuchfabrik verwandelt, deren Maschinen durch Dampfkraft in Bewegung gesetzt werden. Aber noch immer ruht ein Zauber auf dieser Stätte, ein Hauch der Erinnerung aus jener Zeit, da hier noch Papier für die Kanzleien Friedrichs des Großen hergestellt wurde. Noch immer fließt das Wasser unter alten Kastanien und Linden vorbei; noch immer tritt es als breites kristallklares Band unter dem Wasserrad hervor, um sich schäumend und brausend in den Mühlengraben zu stürzen. - In diesem Stadtteil liegen auch die meisten Villen. Man muß unseren Fabrikbesitzern bezeugen, daß sie Geschmack besitzen, wenn man ihre Heime betrachtet. Wir kommen dann zu dem dritten Stadtteil, den ich "Dorf Neudamm" nennen will. Dieser Stadtteil breitet sich vor allem im Osten und Süden aus und enthält u.a. den Seeberg, die Landsberger-, Forst-, Karl-, August- und Ziegelstraße; er trägt einen durchaus dörflichen Charakter mit allen seinen Licht- und Schattenseiten und umfasst ein weites Gelände, das wohl Platz bietet für den Aufbau einer Stadt von mittlerer Größe. In diesem Bezirk, der meist von Arbeitern bewohnt wird, hat fast jeder 3. Einwohner ein Gärtchen oder ein kleines oder größeres Stück Feld, das er mit Fleiß und vieler Liebe bearbeitet. Hier finden wir auch die von dem bekannten Bodenreformer Fabrikbesitzer Hermann Preuße angelegten Laubenkolonien. Wer denkt beim Anblick der in den Schrebergärten tätigen Männer nicht an den Goetheschen ruhigen Bürger, der sein väterlich Erbe mit stillen Schritten umgeht und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten. In "Dorf Neudamm" liegen auch die großen Kunstgärtnereien und die Ruhestätten unserer lieben Verstorbenen, die Friedhöfe, deren einer eine "Totenstadt" ist, wie sie friedlicher, würdiger und weihevoller nicht sein kann. Eines Gässchens will ich noch gedenken in der Nähe des zweiten Friedhofes am Seeberg. Es ist etwa 200 Meter lang und 2 Meter breit und wird gebildet aus einer Häuserreihe auf der einen und den dazu gehörigen Gärten auf der anderen Seite. Was Altkölln dem Neuköllner, das ist das "Rosengässchen" (so wurde es früher genannt) dem Neudammer. Es liegt so verborgen und wirkt durch die peinliche Sauberkeit, durch die kleinen Häuser, die wohlgepflegten niedlichen Gärten und die freundlichen Bewohner so eigenartig, daß es den, der es erst einmal entdeckt hat, immer wieder dorthin zieht. - Einen kleinen Stadtteil für sich bildet das Gelände um den Neudammer See. Vier große städtische Wohnhäuser von auffallend hübscher architektonischer Wirkung, in den Jahren 1926 und 1927 fertiggestellt, stehen auf dem ehemaligen Domänenacker südlich des Sees. Die breite Gartenstraße, die von der Soldiner-Straße bis zum Ufer hinunterführt, zeigt eine Reihe von Siedlungshäusern. Vom früheren Domänengelände jenseits des Sees grüßen uns die zehn Optantenhäuser, schmucke Holzbauten, die mitten im Winter 1925/26 errichtet worden sind. Ihre Entstehung verdanken sie der Initiative unseres Bürgermeisters Kurzinna, der auch durch die Ostmärkerstraße für einen geeigneten Zugang zur Optantensiedlung gesorgt hat. Parallel zu dieser neuesten Straße ist ein Promenadenweg angelegt, dessen Anlagen abwechselnd mit rot- und weißblühenden Kastanien bepflanzt werden sollen. Ein ähnlicher Promenadenweg ist hart am Südufer des Sees, von der vorhin genannten Gartenstraße ausgehend und bis zur Neustadt führend, für später geplant. Die Stadt hat den See, der im Eigentum der Preußischen Domänenverwaltung stand, angekauft und wird eine Seebadeanstalt errichten. Wenn dann zur Frühling- und Sommerzeit auf den beiden Promenadenwegen Jugend und Alter sich erfreuen, auf dem westlich des Sees gelegenen Turnplatz dem Sport gehuldigt wird, in den drei Badeanstalten gewandte Schwimmer und Schwimmerinnen ihre Künste zeigen, und auf dem See schlanke Ruderboote ihre Gleise ziehen, dann wird das für unser Städtchen ein Bild von besonderem Reize sein.
Wenn ich zum Schluß noch an die Gartenlokale erinnere, die wie Altes Schützenhaus, Am Waldessaum, Waldkater und Kleine Mühle an der äußeren Peripherie des Stadtbezirks liegen, so tue ich es vor allem deshalb, weil sie inmitten prächtiger Gärten bzw. Waldanlagen liegen, die das Ziel zahlreicher Spaziergänger bilden. Nicht weit von der Kleinen Mühle liegen übrigens unsere interessantesten Waldbestände, Eichenhain, Erlenkamp und Schlafwinkel, die in ihrer Bedeutung für den Erholungsbedürftigen und Naturfreund noch immer nicht hinreichend gewürdigt werden. Schlanke Kiefern, hohe Erlen und Birken, stolze Eichen, düstere Fichten mit dichtem Unterholz laden zum Besuch ein. Es ist dieses Fleckchen Erde noch ein Stück Abgeschlossenheit und Weltverlorenheit, unfern den lauten Stätten betriebsamer Industrie, über dem der ganze Zauber und die echte Poesie deutscher Waldesherrlichkeit liegt.

Aus "Königsberger Kreiskalender 1928" vom Verlag J.Neumann, Neudamm