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Am 31. Januar, morgens um 7 Uhr kam die telefonische Nachricht, die russische Armee hätte in der Nacht Landsberg/W. kampflos genommen. Was niemand glauben wollte, war zur Wahrheit geworden. In wenigen Stunden würden sie, vor denen wir alle vor Angst und Grauen zitterten, auch in unserem lieben Städtchen sein. Die Ereignisse und die damit folgenden Nachrichten überschlugen sich. Das erste Opfer, von dem gesprochen wurde, war der bekannte Tuchfabrikant H.Bleißner, der noch versucht hatte, seinen Schwiegervater mit dem Wagen nach Küstrin zu bringen. Der Ring um die alte Festung hatte begonnen sich zu schließen. Inzwischen hatten sich einige Persönlichkeiten, sehr zur Erbitterung der aufgeregten Bevölkerung, "planmäßig abgesetzt". In der Nacht zum 1.Februar begann das erste große Sterben einer kleinen, reichen Stadt. Das Morgengrauen zeigte einen blutroten Himmel, der Marktplatz war das erste Opfer. Alle seine schönen Bauten, angefangen von der Seestraße bis zu Milles Ecke, und drüben Klietmanns bis Knappes war ein Flammenmeer. Die grauen Kolonnen marschierten. Wir standen hinter den Vorhängen und weinten um unser Stück Heimat, das man uns nun als Vergeltung nahm. Wie sahen die Häuser rings um uns aus. Keine Fensterscheibe war heil, ein Chaos, dem so manch einer, der sein Hab und Gut verteidigte, zum Opfer fiel. Mein Vater ging morgens mit einem Bekannten fremder Nationalität, um zu sehen, was in einer Nacht geschehen war. Die Nachrichten waren erschütternd und kaum fassbar. So viele unserer guten Freunde und Bekannten hatten diesem Erleben entgehen wollen und sich das Leben genommen. Da hieß es, Hans Neumann und Gattin, die ganze Familie R.H.Ottow am Markt, Bäcker Westphals, Dr. Kersten usw, usw. Alle Namen aufzuzählen wäre einfach unmöglich. Einer nach dem anderen kam zu uns geflüchtet, da unser Haus, wie ein einziges Wunder, die erste Schreckensnacht ohne auch nur die geringste Kleinigkeit zu merken, überstanden hatte, wie eine kleine Insel der Ruhe angesehen wurde. Man selbst wagte sich als junge Frau nicht einmal, auch nur die Gardine zur Seite zu schieben. Man sah nur eine Pelzmütze, das Herz sank vor Aufregung in die Knie. Die Läden sahen aus, wie Vater und P. erzählten: In der Richtstraße lagen im früheren Geschäft von Bengler & Loewy die zerbrochenen Weinflaschen, irgendein Lagerbestand dort. Bei Sorgenfreis, vielmehr Nahs, lagen die Lebensmittel auf der Straße. Einige Mutige holten sich davon, denn es war ja klar, daß es nun nichts mehr zu kaufen gab. In den nächsten beiden Tagen versuchten deutsche Flieger, die marschierenden russischen Kolonnen aufzuhalten. Es war grauenvoll. Das Geknatter der MGs, Pferde wälzten sich auf den Straßen, niemand kümmerte sich darum. Ein paar deutsche Bomben, klein wie Handgranaten, schwebten durch die Luft. Man wollte versuchen Lücken zu reißen, es gelang nicht. Die Mittel- und Knabenschule Wilhelmstraße war ein Reparaturlager geworden. Die dorthin abgeworfene Bombe verirrte sich, fiel in Knolls Garten und riß einen Giebel der schönen Villa Max Preuße ab. Unser schönes Eisgeschäft - o selige Kindheits- und Jugenderinnerung - war ebenfalls ein Ziel. Die Bombe fiel auf den Packhof, dabei wurde die Tochter von Frau Kruse, unsere alte Wandervogel-Freundin Gerda Schöning, tödlich getroffen. Die dritte Bombe setzte man vor Fräulein Hertha Rachows Haus.

Das Leben ging weiter, nur hörte man immer wieder neue Gräueltaten und furchtbare Nachrichten. Bei Bäcker Wagner standen wir Schlange, um ein Brot zu ergattern. Viel zu sprechen wagte man nicht. Scheu gingen die Blicke umher, denn überall stand so ein Russe mit gezückter MP. Aber etwas sickerte doch durch und dann kamen Fragen über Fragen. Wo ist Walter Neumann? Hat jemand Lehrer Helwig gesehen? Ich werde nie vergessen, wie er zwischen einem Russen und der Frau einer bekannten Persönlichkeit wohl seinen letzten Gang tat. Wenig später war er erschossen worden. Unser guter Kurt Helwig, einer unserer beliebtesten Lehrer in der Mittelschule. Dann kam neue Meldung; jemand kam mit einem Russen, um die jungen Frauen und Mädchen aus den Häusern zu holen, zum Bau des Flugplatzes von Massin. Viele mögen davon nicht wiedergekommen sein.

Kamen dann die langen Abende und Nächte, saßen alle Hausbewohner still und bang sorgend in ihren Stuben. Was brachte diese Nacht. Inzwischen war die Soldiner-Straße von Ottow bis Fräulein Friedländer, auf der anderen Seite von Müllers bis J.F.Ottow den Flammen zum Opfer gefallen. In der Peststraße war das Feuer bis zu Bäcker Westphals gedrungen. Dann hörten wir, daß in der Soldiner-Straße alle Bewohner eines Hauses als Geiseln erschossen worden seien, weil eine junge Frau geschossen hatte. Das Massengrab der Opfer liegt bei Zwiegs im schönen Garten. Tag reihte sich an Tag, die Unruhe wurde immer größer. Immer neue Truppen kamen durch und der Donner der Geschütze auf das langsam sterbende Küstrin erschütterte die Luft. Immer mehr Häuser wurden geräumt. Lazarette wurden gebraucht. Jeder freie Platz wurde zum Friedhof für die gefallenen russischen Soldaten. So auch der Küstriner Platz, auf dem man vom Kriegerdenkmal den Krieger nahm, den ganzen Sockel rot verkleidete und oben drauf den Sowjetstern setzte. Eines abends brannte dann das Rathaus. Es war so ein ergreifendes Schauspiel, daß man wie gebannt immer wieder hinblicken musste. Zuletzt war der Turm nur noch als glühend erleuchtet zu sehen. Fast hatte man das Gefühl, er könne nicht sterben. Ganz langsam fiel er in sich zusammen. So wie mit diesem brennenden Turm, so war das Schicksal unserer kleine Stadt besiegelt.

Nur noch wenige Tage, dann hieß es am 13.Februar, am nächsten Morgen müssen alle Neudammer aus der Stadt sein. Nur wer in Lazaretten arbeitete, durfte bleiben. Aber nicht lange, da mussten auch sie auf die Landstraße in eine ungewisse Zukunft hinein. Schnee und Eisglätte begleiteten uns auf dem Weg in Richtung Soldin. Wie sah der Friedhof am Seeberg aus, nicht einmal den Toten ließ man die letzte Ruhe. Vorbei ging es an der Försterei "Saubude". Auch sie war nur ein Trümmerhaufen. Ihre Bewohner lagen erschossen auf dem Hof. Armes "Schrippchen". Der "Waldkater" grüßte uns vertraut und doch so fremd. So nahmen wir für lange Zeit Abschied von unserem lieben Heimatstädtchen, das viele nie mehr wiedersehen sollten. Sie blieben am Rande der Straße liegen, verhungert, erfroren. Wo sind die jungen Menschenkinder geblieben, die Mädchen, Frauen, die jungen und älteren Männer, die die Russen von den Straßen, aus den Unterkünften holten und ins weite endlose Russland verschleppten.

Als wir Anfang Mai zurückkamen, war Ruhe eingetreten. Für die Russen war "woyna kaput". Und wir sahen Tag für Tag die endlosen grauen Züge der deutschen Männer, die als Kriegsgefangene ihren Weg nach Russland antraten. Auf dem Jahn-Platz war die Durchgangsstation.

Nun erst konnte man es wagen, wieder durch unser Neudamm zu gehen. Wie sah es inzwischen aus. Der große Verlag "J.Neumann-Neudamm" lag da, kahl und bloß, man hatte restlos demontiert.

Die Fabrik von Richard und Max Preuße war abgebrannt, das große Wellblechdach lag irgendwo auf der Straße. Immer neue Nachrichten sammelten sich an. Der eine wusste zu erzählen, wie tragisch das Leben unseres trotz seiner Rauhbeinigkeit doch so beliebten Arztes, Dr. Ziehlke, zu Ende ging. Sein Haus wurde dann mit dem Einzug der Polen zur Bürgermeisterei. Im Amtsgericht saß die Miliz, in der wunderschönen Villa von Hildebrandts herrschte der russische Kommandant. Irgendwie hatten sich die Zurückgekehrten wieder in einer leerstehenden Wohnung eingerichtet. Man war froh, wieder dort zu sein, wo man hingehörte. Einer half dem anderen, dort gab es einen Stuhl, dort ein Bett. Und man war glücklich.

 

 

Als am 23. Juni 1945 vormittags die polnische Miliz ausrief, daß innerhalb zwei Stunden alle deutschen Einwohner mit 30 kg Gepäck Neudamm verlassen mussten, da gab es einen letzten Dolchstoß. Denn nun war unser Schicksal besiegelt, wir hatten die Heimat endgültig verloren. Wir, die damals noch jung waren, gaben ja die Hoffnung nicht auf, aber unsere Mütter und Väter wussten, daß sie ihr Städtchen, ihr Neudamm, nie wiedersehen würden.

von L.R.